Sinnkrise des Individuums

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Wir leben im Zeitalter des kommerziell motivierten Eskapismus. Alles wird zum Fake. Das ganze Leben ist ein Possentheater, ein grässlich verzerrtes Spiegelbild der medial inszenierten Scheinrealität.
Der Mensch entfremdet sich – nicht nur von sich selbst, sondern auch von seiner Umwelt. Er ist nichts als eine Hülle, die von äußeren Impulsen ferngesteuert wird, nichts als eine Marionette, eine Blackbox, die erst mit Informationen gefüttert werden muss, bevor sie überhaupt in der Lage ist, etwas zu tun.
Die Menschen werden zu stromlinienförmigen, angepassten Sozidioten, die als willfährige Angestellte, unkritische Konsumenten und selbstverliebte Egomanen ihrem ganz persönlichen Glück hinterher jagen und damit – bewusst oder unbewusst – einen Beitrag dazu leisten, dass das gesamte System sich selbst beschleunigender Degenerierung aufrechterhalten bleibt. Zusammenhalt und Dazugehörigkeit funktionieren nicht mehr durch eine auf Konsens beruhende Wertegemeinschaft, sondern durch äußerliche Gleichförmigkeiten (Markenbewusstsein, Handy-Klingeltöne, virtuelle Communities etc.), die sich nach modischen Trends richten und durch das stetige Wechselspiel von Angebot und Nachfrage gesteuert werden.
Das einzelne Individuum ist zu schwach in seinem Selbstbewusstsein, um sich dauerhaft durch eigene Werte und Prinzipien mit seinem eigenen Lebensplan verwirklichen zu können. Stattdessen werden Lebenskonzepte und emotionale Assoziationen von massenmedial konstruierten Marken-Werbeclips und Reality-Shows vorgegaukelt, die der orientierungslose Mensch nur allzu bereitwillig kopiert.
Wir sind schwach geworden, nicht nur rein physisch betrachtet, sondern auch vom Willen her. Nur allzu leicht lassen wir uns von der multimedialen Reizüberflutung manipulieren, weil wir entweder zu bequem sind, dem gängigen neoliberalistischen Gewinnmaximierungsmodell vom höher-schneller-weiter-ich-krieg-den-Hals-nicht-voll-Geiz-ist-geil-Größenwahn ein eigenes Konzept entgegenzustellen oder weil wir mangels Bildung/Selbstbewusstsein gar nicht dazu in der Lage sind, hinter die Kulissen dieser Scheinwelt zu blicken. Verstärkt wird diese Entwicklung durch die Sozialisation der neuen Generation: Das eigene Verhalten wird nie von außen in Frage gestellt, es gibt keine verbindlichen Regeln, jeder Wunsch wird sofort erfüllt, man muss sich nicht anstrengen, um etwas zu erreichen, fehlende Aufmerksamkeit wird durch die Erfüllung von Konsumwünschen kompensiert.
Die Folge ist eine geringe Belastbarkeit des Einzelnen, die Tendenz zur maßlosen Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten, Probleme beim Umgang mit Scheitern und Kritik, fehlende Werte und Prinzipien als grundlegende Voraussetzung für selbstverantwortliches Handeln und daraus folgend ein fehlender Lebensplan, der zumindest in groben Zügen aufzeigt, wohin die Reise geht.
Alles muss schnell und möglichst sofort geschehen. Man will sich nicht groß anstrengen müssen, um sein Ziel zu erreichen, Ausdauer, Disziplin, Geduld und Zielstrebigkeit sind Tugenden, die zunehmend verloren gehen. Jeder ist nur noch auf der Suche nach dem schnellen Kick. Informationen werden nur noch bei ausreichend hoher Reizschwelle wahrgenommen und nur gespeichert, sofern sie von Relevanz für die aktuelle Lebenssituation sind. Wissen ist überall und zu jeder Zeit verfügbar und muss deshalb nicht mehr durch langwierige Lernprozesse individuell gespeichert werden.
Die fehlende Rückkopplung mit eigenen Wissens- und Erfahrungswerten erhöht die Verunsicherung und Orientierungslosigkeit des Einzelnen, der sein Selbstwert- und Dazugehörigkeitsgefühl deshalb aus leicht zugänglichen und abrufbaren Oberflächlichkeiten schöpft. In dieser Scheinwelt ist der Umgang mit persönlichen Krisen und zwischenmenschlichen Konfliktsituationen nicht vorgesehen. Deshalb ist man mehr oder weniger ständig auf Flucht vor möglichen Krisen und lässt sie durch das Abtauchen in exotern induzierte Reizwahrnehmungen (Sex, Drogen, Alkohol, Spielsucht in der virtuellen Scheinwelt des Internets) erst gar nicht an sich herankommen.
Fast ausschließlich auf die möglichst schnelle Befriedigung der eigenen Wünsche und Bedürfnisse fixiert, werden die Individuen zu Beziehungskrüppeln, die nur noch schwer dazu in der Lage sind, engere soziale Kontakte zu pflegen, aufrichtig miteinander umzugehen und ihr eigenes Leben selbst bestimmt auf die Reihe zu bekommen.
Man sucht eher bei anderen die Schuld als bei sich selbst. Da nichts mehr von großer Dauer ist, verlieren die Dinge ihren Wert. Der Weg des geringsten Widerstandes perpetuiert das Mittelmaß, das, gepusht von Internet und den Massenmedien, durch die Abstimmung der Zuschauer- und Konsumentenmassen zum Standard erhoben wird. So feiert die Gesellschaft, aber auch der Einzelne, ständig Erfolge, die im Grunde gar keine sind, sondern Anzeichen einer tiefen Sinnkrise, mit der man längst nicht mehr umzugehen weiß.
Eine Abwärtsspirale ist in Gang gesetzt, die Gesellschaft und der kulturelle Impetus, auf dem sie sich gründen, fallen auseinander.