An alle 40-Jährigen!

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Als wir klein waren, telefonierte man noch analog mit einer Wählscheibe, es gab via Antenne vier Fernsehprogramme, Schallplatten wurden noch millionenfach verkauft, und die Hauptstraßen in unseren Heimatorten waren noch voller kleiner Einkaufs-, Bäckerei- und Metzgereiläden. Sogar einen Schuhmacher gab es bei uns im Ort, der Bauer über der Brücke verkaufte noch frische Kuhmilch. Es gab noch keine Behinderten- oder Frauenparkplätze, der Einkaufswagen im Supermarkt funktionierte noch ohne 1 Euro-Münze, gezahlt wurde noch in bar, denn das Geld war schließlich noch was wert. Mitten in der Siedlung gab es noch ein kleines Zwetschgenwäldchen, und draußen in den Feldern jede Menge Platz zum Spielen. In der Schule dröhnten von Zeit zu Zeit die Sirenen, die vor Flieger-Alarm warnten, die Bedrohung des Kalten Krieges war noch Realität, Pershing-2 und der NATO-Doppelbeschluss waren in aller Munde. Erste Konsolenspiele kamen auf den Markt, wir spielten bei unseren amerikanischen Nachbarn Space Invaders und Pacman bis zum Umfallen. Und wir saßen jeden Nachmittag vor dem Fernseher. Die erste Rebellin war für mich Pipi Langstrumpf, die es den beiden Spießern Tommy und Anika so richtig gezeigt hat. Ganz zu schweigen von den vielen Cartoons, die über die Mattscheibe flimmerten: Biene Maja, Heidi, Pink Panther, Die Schlümpfe, Wickie, Bugs Bunny, Nils Holgerson, Calimero, Tao Tao, Pinocchio, Captain Future, die schnellste Maus von Mexiko, Dr. Snuggles und wie sie alle hießen. Noch besser waren die legendären Jim Henson-Shows: „Die Muppets“ (ich liebte besonders „Schweine im Weltall“) oder später die Fraggles mit der allwissenden Müllhalde – köstlich. Die Abenteuer der Augsburger Puppenkiste haben wir genauso gesehen wie Pantau, Karlsson vom Dach, Lucy der Schrecken der Straße oder Michel von Lönneberg. Meine allergrößter Held war Zorro, die Revolverhelden in „Western von Gestern“ oder „Rauchende Colts“ durfte ich auf keinen Fall verpassen. Meine Lieblings-Comedians waren Stan Laurel und OIiver Hardy alias Dick und Doof, die drei Stooges oder die Slapstick-Chaoten in der Schwarz-Weiß-Revue „Klamottenkiste“. Später dann Lee Majors als Stuntman in „Ein Colt für alle Fälle“, „Vier Fäuste für ein Trio“, Pierce Brosnan in Remington Steele oder Robert Wagner in „Hart aber herzlich“. Unvergessen natürlich auch Tom Selleck als smarter Detektiv Magnum, Karl Malden in den „Straßen von San Francisco“ oder Roger Moore und Tony Curtis in „Die Zwei“. Ich liebte die Hau-Drauf-Filme von Bud Spencer und Terence Hill, Winnetous Abenteuer mit Pierre Briece und Lex Parker als Old Shatterhand, Jonny Weißmüller als Tarzan und natürlich die Filme von Luis de Funes. Meine ersten „Horror“-Filme waren die Zeitmaschine mit den gruseligen Morlocks und John Carpenters „The Fog – Nebel des Grauens“, mein Gott, hatte ich in diesem Winter Schiss, wenn ich bei Nebel abends ins Turnen musste. Ich liebte Science Fiction: Raumschiff Enterprise, Kampfstern Galactica, Buck Rogers, Krieg der Sterne, später die Musikvideos auf MTV. So wird man mit dem Fernsehen groß. . .
40 Jahre auf dieser Welt – da hat man aber auch sonst so einiges mitbekommen. Glasnost, Perestroika, das Ende des Kalten Krieges, die Deutsche Wiedervereinigung, das Ende der Sowjetunion und der Apartheid, den Abschied von der D-Mark, den Aufstieg und Fall der dot-Com-Pioniere, Kriege im Irak, im Kosovo, in Afghanistan, Völkermord in Somalia, den arabischen Frühling, die internationale Wirtschafts- und Bankenkrise und in ihrer Folge die Euro-Schulden-Krise, Tschernobyl und Fukushima, Anfang und Ende der Space-Shuttle-Flüge, Klimawandel, die digitale Revolution, den Aufstieg der Grünen, den Zerfall der FDP; Reagan die Bushs, Clinton, Thatcher, Kohl, Schröder, Mitterand, Blair, Berlusconi – alle sind sie von der politischen Bildfläche verschwunden. Genauso wie die Schurken: Milosovic, Osama Bin Laden, Gadaffi. . . Und Skandale? Klar: Monika Lewinskis Präsidenten-Blow-Job im Oval-Office, Angela Ernakowas Samen-Raub in der Besenkammer, der Mordprozess O.J. Simpson, Michael Jackson musste vor Gericht die Hosen runterlassen, belgischer Kinderschänder-Prozess um Marc Dutroux, der Fall Natascha Kampbusch etc. Etliche, die wir liebten, sind von uns gegangen: Ayrton Senna, Lady Di, Freddy Mercury, Kurt Cobain, Michael Jackson, Amy Winehouse, River Phoenix, Heathe Ledger, um nur ein paar der Jüngsten zu nennen.
Was hat uns sonst noch geprägt? Die Musik natürlich. Die 80er Jahre mit New Wave, Glam Hardrock und Metal in allen Variationen von Metallica über Iron Maiden bis hin zu Slayer, später dann Euro Dance, Techno und die Neue Deutsche Welle, dann tauchten Nirvana auf und in ihrem Sog eine ganze Reihe brillanter Grunge- und Crossover- und NuMetal-Bands. Im Pop-Business feierten in Nachfolge von den New Kids On The Block diverse Boygroups beachtliche Erfolge, die Spice Girls waren bahnbrechend als weibliche Pendants und machten Erfolge von deutschen Mädchen-Combos wie No Angels oder Tic Tac Toe überhaupt erst möglich. Wo wir bei den ganzen Casting-Formaten wären, die über die Jahre hinweg mehr oder weniger gute Acts hervorgebracht haben. Herausragende Solo-Künstler gab es auch einige: Madonna, Michael Jackson, Whitney Houston, Prince, Phil Collins, Bryan Adams, Bruce Springsteen, Robby Williams, Britney Spears, Christina Aguilera, Janet Jackson, P. Diddy, Eminem, DJ Bobo, Dido etc. Und bahnbrechende Bands? Klar: Rolling Stones, Queen, Genesis, U 2, Depeche Mode, Duran Duran, Tears for Fears, Pet Shop Boys, Guns’n Roses, Bon Jovi, Nirvana, Metallica, Ugly Kid Joe, Limp Bizkit, Run DMC, Beasty Boys, Linkin Park, REM, The Prodigy, Coldplay, um nur die Prominentesten und Einflussreichsten zu nennen.
Am dynamischsten und erstaunlichsten in den vergangenen 40 Jahren war aber der revolutionäre Quantensprung vom analogen ins digitale Zeitalter, eine rasante Entwicklung, die unser wirtschaftliches und gesellschaftliches Leben nachhaltig verändert hat. Ich kann mich noch an die alten Commodore 64 und Atari 1024 erinnern, mit denen wir in der Schule herumspielten. Mein erstes Handy sah ich im Kino, es gehörte, glaube ich, Michael Douglas in dem Film „Wall Street“. Als es 2000 dann um die Versteigerung der UMTS-Lizenzen ging und sich die Telefongesellschaften mit Milliardenbeträgen gegenseitig überboten, fragte man sich noch, ob die eigentlich wissen, was sie da tun. Sie wussten es. In keinem Bereich ist in den vergangenen Jahren mehr Geld verdient worden als auf dem Telekommunikationsmarkt. Nach mehreren technischen Zwischenlösungen sind wir mit den modernen Smartphones an einem Punkt angelangt, wo das Internet mobil geworden ist. Wenn ich heute ein Lied im Radio höre und wissen will, von wem das Lied ist, das gerade gespielt wird, brauche ich nur mein I-Phone an die Lautsprecher zu halten und bekomme die Information spätestens mit dem Refrain in wenigen Sekunden. Wenn ich im Elektrofachmarkt stehe und mich für ein Produkt interessiere, brauche ich mit meinem Smartphone nur den Strichcode zu scannen und habe innerhalb kürzester Zeit eine komplette Preisübersicht aller Anbieter, die dieses Produkt ebenfalls vertreiben. Informationen, Bilder, Filme, Musik – alles wird ins weltweite Netz mit seinen schier unendlichen Möglichkeiten hineingeworfen und steht allen Usern weltweit jederzeit abrufbereit zur Verfügung. Hier ist ein virtuelles Paralleluniversum aus unzähligen Homepages und Infokanälen entstanden, das dank Facebook, Twitter und Co. von immer engmaschiger werdenden sozialen Netzwerken durchzogen wird. Die Entwicklung ist unaufhaltsam. Die reale Welt wird im Internet längst nicht mehr nur spiegelbildlich abgebildet, sie wird mehr und mehr assimiliert und in allen lebensweltlichen Bereichen durchdrungen. Wir 40-Jährigen haben diese Entwicklung nachvollzogen und als Erwachsene staunend miterlebt, mit welch unglaublich hoher Geschwindigkeit sie voranschreitet. Allein die technischen Voraussetzungen legen Beschränkungen auf, im juristischen Bereich vielleicht noch urheber- und datenschutzrechtliche Auflagen – ansonsten kann man davon ausgehen, dass der Krake Internet die reale Welt unausweichlich und immer gnadenloser mit seinen gierigen Tentakeln umschlossen hält. Unsere Generation ist vielleicht noch am ehesten in der Lage, zu erkennen, dass die grenzenlosen Möglichkeiten des Internets nicht nur Profit und Chancen beinhalten, sondern auch unkalkulierbare Risiken und Bedrohungen, die das Aussehen unserer Gesellschaft und die Art, wie wir denken und handeln, in nicht unbeträchtlichem Maße beeinflussen werden. Zwangsläufig geraten wir immer mehr in die Abhängigkeit von Telekommunikations- und Stromanbietern, ein Markt der als einstiges staatliches Monopol durch europa- und weltweite Deregulierungsbestrebungen längst in die Hände privater Gewinn- und Nutzenmaximierer geraten ist. Irgendwann werden wir vielleicht Sokrates Ausspruch „Ich denke, also bin ich“ uminterpretieren müssen in „Ich bin online, also bin ich“. Umgekehrt heißt das: Wer nicht irgendwo im Internet auftaucht, existiert nicht, ist ausgegrenzt und Verlierer einer hypermodernen und -aktiven Gesellschaft, die sich dem multimedialen Overkill verschrieben hat. Da hilft am Ende vielleicht nur noch Eines: den Stecker ziehen. . .
Auf die nächsten 40 Jahre! Sie werden mit Sicherheit nicht weniger spannend.