Best of Musical Gala 2012 – Quo vadis Musical?

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Wenn Elisabeth Hübert blutlüstern ihrem Duett-Partner Alexander Klaws die Halsschlagader anknabbert, wenn „The Voice“-Entdeckung Patricia Meeden mit kraftvoller Soulstimme die „Dreamgirls“ wiederbelebt und wenn Pia Douwes erst zum Akkubohrer greift, um wenig später Sabrina Weckerlin die Haare abzuschneiden, dann ist Musical-Gala angesagt. Die beliebte Showrevue aus dem Hause Stage Entertainment machte jetzt auch Station in der Mannheimer SAP-Arena und stellte einmal mehr eindrucksvoll unter Beweis, dass sie zu den hochkarätigsten Live-Produktionen in Deutschland gehört. Ein 20-köpfiges Orchester, aufwendige Video- und Beleuchtungstechnik, opulente Kostümausstattung, mitreißende Choreografien und ein bestens aufgelegtes Starensemble stehen für die hohe Professionalität dieses eindrucksvollen Bühnenspektakels.
Eine wunderbare Plattform, die Stage einerseits die Möglichkeit bietet, für die enorm angewachsene Bandbreite des Genres Musical zu werben. Zum anderen bekommt der geneigte Musical-Fan die Gelegenheit, seine Lieblingsmusicalstars einmal in Rollen zu erleben, in der man sie niemals erwartet hätte oder schon immer mal sehen wollte. Für die Gesangsprofis birgt dieses Perfomance-Benchmarking durchaus Risiken. In einer Show wie dieser kann mancher Darsteller für Aha-Erlebnisse sorgen – oder aber hoffnungslos gegen das Original abstinken. Dass Letzteres bei der Musical-Gala 2012 eher die Ausnahme ist (außer Yngve Gasoy-Romdal, der als Graf von Krolock weder Thomas Borchert noch Kevin Tarte, noch Jan Amman und schon gar nicht Steve Barton das Wasser reichen kann), unterstreicht die hohe Qualität der Stage-Promotour, die sich in jeder Hinsicht positiv von den billig produzierten Wald-und-Wiesen-Musical-Shows abhebt.
In den vergangenen Jahren hat sich einiges getan in Musical-Deutschland. Stage selbst hat etliche Eigenproduktionen auf die Bühne gebracht oder Broadway-Erfolge adaptiert und trifft damit den Geschmack einer immer größer werdenden Musical-Fangemeinde. Die Kreuzfahrt-Revue „Ich war noch niemals in New York“ mit Liedern von Udo Jürgens, die NDW-Klamotte „Ich will Spaß“ oder die Udo Lindenberg-Hommage „Hinterm Horizont“, die aktuell mit Serkan Kaya in der Hauptrolle in Berlin Erfolge feiert, sind beispielhaft für den enormen Output, den es hierzulande an neuen Musical-Produktionen in den letzten Jahren gegeben hat. Dass dieser Trend durchaus auch kritisch zu sehen ist, wird hier noch zu thematisieren sein. Immerhin führt er dazu, dass die Musical-Gala erstmals ganz ohne Lloyd-Webber-Highlights auskommt. Kein Jesus Christ Superstar, kein Evita, kein Starlight Express – nicht einmal der Klassiker Phantom der Oper klingt an, auf ein Medley verzichtet man gänzlich.
Das zeugt von neuem Selbstbewusstsein. Vielleicht liegt es aber auch am Motto der Show: „Movie meets Musical“ (obwohl Evita und das Phantom ja mittlerweile auch verfilmt wurden). Da hat Stage ja mittlerweile einiges in seinem Portfeuille: Dreamgirls, Sister Act, Moulin Rouge, Dirty Dancing, sogar Monty Pythons „Ritter der Kokosnuss“ gibt es als Musical-Fassung (Spamalot); kaum ein Disneyfilm, der es nicht in irgendeiner Form von der Toon-Leinwand auf die Musical-Bühne geschafft hat. Man wartet eigentlich nur noch, dass Aristocats Lloyd-Webbers Dauerbrenner Cats ablöst. Der Erfolg gibt den Programmstrategen von Stage Entertainment recht: familienfreundliche Produktionen wie Tarzan oder König der Löwen mit den Welthits von Phil Collins und Elton John beweisen, dass dieses Konzept auch finanziell aufgeht. Dass man bei Stage Entertainment nicht nur auf den Massengeschmack zielt, sondern durchaus auch bereit ist, gewisse Risiken einzugehen, zeigen Produktionen wie Levay & Kunzes düstere Roman-Adaption Rebecca, die zur Zeit in Stuttgart zu sehen ist, oder Rocky, das (mit fachlicher Unterstützung von Sylvester Stallone und den Klitschko-Brüdern) im November 2012 Weltpremiere in Hamburg feiern wird.
Stoff genug also für ein abendfüllendes Programm voller Abwechslung und überwältigender Eindrücke. Stage-Musicalgala, das ist wie großes Popcorn-Kino, wie eine rasante Achterbahnfahrt durch die Welt des Musicals. Begleitet von einem brillant aufspielenden Orchester unter Leitung von Bernhard Volk laufen die Musicalstars zur Hochform auf. Mit heißen Latino-Rhythmen (100.000 Watt) und Höhepunkten aus der Supremes-Revue „Dreamgirls“, die die Motown-Ära der 60er- und 70er Jahre aufleben lässt, wird die Messlatte gleich zu Beginn mächtig hoch gelegt. Hier kann sich das gesamte Ensemble schon mal richtig warmlaufen, bevor DMJ mit samtig weicher Stimme an der Seite von Patricia Meeden bei „When I first saw You“ für den ersten Gänsehautmoment sorgt, der sogleich mit Meedens ausdrucksstarkem „One Night Only“ getoppt wird, auch wenn der „Sister Act“-Nachwuchsstar stimmlich nicht ganz an das filmische Original von Beyonce heranreicht.
Im „König der Löwen“-Duett behält Patricia Meeden gegenüber ihrem leicht schwachbrüstigen Partner Mathieu Boldron klar die Oberhand. Der kleine Franzose radebrecht sich etwas hölzern durch das atmosphärisch stimmungsvolle „Endlose Nacht“, landet aber am Ende der Show als Polizist Eddie (seit 2010 seine Paraderolle im Cast von Hamburg) einen absoluten Volltreffer.
Dank virtuos eingesetzter Beleuchtungseffekte und moderner Video-Technik entstehen auf der Bühne immer neue eindrucksvolle Kulissen in monumentaler Optik. Da fühlt man sich als Darsteller fast so wohl wie auf der „heimischen“ Bühne. Perfekt abgestimmt sind die zahlreichen Tanzeinlagen des Ensembles. Die Tänzer verwandeln die orchestralen Klänge in akrobatisch-dynamische Bewegungen und verlassen nicht selten die Rolle der Statisten, um aktiv in den Vordergrund zu drängen und die Sänger in die Choreographie mit einzubeziehen. Gesang, Spiel und Tanz – das ist Musical at its best, ein berauschender Augen- und Ohrenschmaus, der in der schier reizüberflutenden Opulenz des burlesquen Moulin Rouge-Blocks kulminiert.
Überhaupt erzeugen die Darsteller im Ensemble eine überwältigende Bühnenpräsenz. Bei den Solo-Parts herrscht pure Frauenpower. „Tarzan“-Hauptdarstellerin Elisabeth Hübert überzeugt mit ihrer jungen, glasklaren Stimme nicht nur in ihrer Paraderolle an der Seite von Alexander Klaws, sondern überrascht mit kraftvoller Stimme auch als Sarah in Tanz der Vampire oder im „Lady Marmelade“-Quartett aus Moulin Rouge. Sabrina Weckerlin, die in Produktionen wie Elisabeth, Legende einer Heiligen oder die Päpstin auf christliche Rollen abonniert zu sein scheint, verleiht dem Rebacca-Opener „Ich hab geträumt von Manderley“ (Rebecca) strahlende Weite, feiert mit „Endlich sehe ich das Licht“ (Rapunzel) ein hinreißendes Duett-Comeback mit Alexander Klaws (schon bei „Alles“ aus dem Musical „3 Musketiere“ haben die beiden bewiesen, dass sie stimmlich wunderbar harmonieren) und schlüpft bei „Show me how to burlesque“ in bester Christina-Aguilera-Manier („Dirty“) in die Rolle der verruchten Femme fatale.
Diese hat allerdings schon die alles überragende Pia Douwes besetzt. In 25 Jahren auf der Musical-Bühne hat die Niederländerin schon als Sally Bowles in Cabaret Liza Minnelli den Rang abgelaufen, unerreicht ist ihre laszive Performance von „All that Jazz“ (Chicago), und auch in Rollen wie die der Lady de Winter („Männer“, 3 Musketiere) oder der Killer Queen in We will Rock You („Another One Bites the Dust“) spielte sie ihre enorme Ausdrucksstärke aus. Und dass Pia ihre Ausbildung an der „Brooking School of Ballet“ in Londen genossen hat, zeigt sie mit katzenartiger Geschmeidigkeit eindrucksvoll bei „Welcome to Burlesque“ und „Lady Marmelade“. Problemlos gelingt ihr der Rollen- und Charakterwechsel ins Komödiantische. Die zwischen drei Männern oszillierende Donna aus dem ABBA-Musical „Mamma Mia“ spielt sie so überzeugend wie einst Carolin Fortenbacher. Köstlich auch ihre Darstellung der klammernden Mutter in „Rapunzel“, und wer glaubt Sisi, die Kaiserin von Österreich (Elisabeth), sei ihre Paraderolle gewesen, der hat Pia Douwes noch nicht als Miss Danvers in Rebecca gesehen. In der Zerrissenheit zwischen aufkeimendem Wahnsinn, ergreifender Melancholie und stolzer Ergebenheit zu ihrer geliebten Rebecca verleiht sie der Figur fast diabolische Züge – ein absoluter Höhepunkt dieses Abends, der an darstellerischer Intensität nicht zu überbieten ist.
So schön und eindrucksvoll eine solche Revue ist, sie hat auch den Nachteil, dass die dargebotenen Highlights aus ihrem Kontext gerissen werden und durch die bloße Aneinanderreihung an atmosphärischer Tiefe verlieren. Teilweise wirkt das Ganze etwas gehetzt und glatt gebügelt, Lieder werden zum Teil nur angespielt und Übergänge gestrafft. Das merkt man besonders am Disney-Medley, wo Rapunzel, Der Glöckner, Herkules, Arielle, Mulan, Die Schöne und das Biest, Pocahontas und Aladdin nahtlos ineinander übergehen. Ein Schwachpunkt der Show. Weniger wäre hier mehr gewesen. Man hätte im Grunde auch ganz darauf verzichten können, denn die Disney-Sparte war ja schon mit König der Löwen und Tarzan recht prominent vertreten. Stattdessen hätte man ein, zwei der wunderschönen Melodien aus „Wicked“ ins Programm aufnehmen können. Denn auch dabei handelt es sich um eine Filmadaption – nach dem „Zauberer von Oz“ mit Judy Garland.
Das Schöne an Wicked ist, dass die Filmvorlage nicht einfach mehr oder weniger nacherzählt wird, sondern die Vorgeschichte aufgreift und darstellt, wie aus der guten Hexe Elphaba die böse Hexe Westens werden konnte. Das verleiht Wicked im Vergleich zu allen hier aufgegriffenen TV-Musical-Adaptionen eine Eigenständigkeit, die sich meines Erachtens wohltuend von Produktionen wie Dirty Dancing oder den ganzen Disney-Shows abhebt. Ich bin der Meinung, es wird zu viel und zu schnell produziert. Eine Premiere jagt die nächste. Fast schon im Halbjahresrhythmus tingeln die Shows durch die deutsche Musical-Theaterlandschaft. Es entsteht der Eindruck einer Goldgräberstimmung, die eine  Vielzahl von Produktionen möglichst schnell zu Geld machen will. Masse statt Klasse scheint das Motto zu sein. Dadurch läuft man Gefahr, dass das Publikum bald übersättigt wird und Stage sich den eigenen Markt kaputtmacht. Mit „Rocky“, einer weiteren TV-Vorlage, ist man zudem ein enormes Risiko eingegangen. Nach etlichen Kino-Sequels und angesichts der Realsatire als die man die von den Klitschkos dominierte internationale Boxszene mittlerweile nur noch bezeichnen kann, dürfte das Interesse rasch abflauen. Zumal das Thema junge Männer anspricht, die Musicals in der Regel ohnehin für Frauenkram halten. Ob man die als neue Musical-Fans gewinnen kann, darf bezweifelt werden. Könnte also durchaus sein, dass man hier mit großem Bohey am Bedarf vorbei produziert. Vielleicht ist das eine lehrreiche Erfahrung für die Stage-Programmplaner. Wer die Wertigkeit und Qualität des deutschen Musicals perspektivisch aufrecht erhalten will, sollte nicht jeden Stoff, der sich aus Best-of-Alben prominenter Musiker oder filmischen Vorlagen anbietet, auf Teufel komm raus auf die Musicalbühne zerren, sondern auch jenseits der massentauglichen Unterhaltungsthemen nach künstlerisch anspruchsvollen Inhalten Ausschau halten, die emotionale Tiefe, feinsinnigen Zeitgeist, aber auch eine gewisse Widerspenstigkeit versprühen. Selbstkritisch muss ich hier mit meiner Kritik an einer zunehmenden Popularisierung des Genres Musical natürlich auch eingestehen, dass am Ende immer noch der Geschmack des Publikums entscheidet. Der Erfolg misst sich nun mal an den Zuschauerzahlen – nicht am qualitativen Anspruch.